Ein Plädoyer fürs Schreiben

Krisen – kennt man ja langsam. Man liest täglich von ihnen oder man hört sie aus dem Bekanntenkreis oder man erlebt sie selbst. Und vielleicht wird man über die weltweite Ausbreitung des Corona-Virus in ein paar Jahren genauso sagen: Ach Corona, das ist auch wieder vorbeigegangen. Aber im Unterschied zu andren Krisen betrifft uns diese auf einmal alle, auch wenn natürlich nicht alle gleich stark unter ihr leiden. Das muss man erstmal begreifen, verstehen, einsortieren. Und wenn das Denken zu schwer ist, dann hilft manchmal Schreiben. Ohne Rechtschreibregeln, ohne Struktur, ohne konkretes Ziel. Deshalb: ein Plädoyer fürs (Tagebuch)schreiben.

Es ist schon eine verrückte Zeit, die wir da grade erleben. Verrückt, wortwörtlich. Plötzlich müssen wir unser ganzes Leben in die eigenen vier Wände verlagern. Keine Konzerte, kein Sportkurs, kein Cafébesuch mit Freunden an der frischen Luft. Stattdessen übt sich Deutschland im Homeoffice. Natürlich mit Ausnahme derer, die in den sogenannten „systemrelevanten“ Berufen arbeiten, oder Kulturschaffenden, die grade gar nicht arbeiten können, oder Kreativen, die sich auch vor Corona schon kein Büro leisten konnten. Aber wir alle hängen jetzt mindestens unsere gesamte Freizeit zu Hause rum und müssen uns noch daran gewöhnen. Wie soll das in den nächsten Tagen werden? Was sollen wir mit unserer Zeit anstellen?

Ständig schaut man aufs Handy und liest die nächste beunruhigende Meldung zum Corona-Virus. Wäscht sich zum 20. Mal die Hände. Schimpft ein bisschen mit Partner oder Kind oder Mitbewohnerin. Oder fühlt sich einsam. Tippt aufbauende Nachrichten an Freunde oder in die Familien-WhatsApp-Gruppe, die seit Corona wieder zu neuem Leben erwacht ist.
Hin und wieder muss man auch raus. Dann läuft man mit zwei Meter Abstand Slalom um die wenigen Menschen auf den Straßen zum Supermarkt. Zumindest hat der Kauf von Klopapier jegliche Peinlichkeit verloren. Man muss es nicht mehr möglichst unauffällig nach Hause tragen, seit das Internet offenbart hat, dass das der Stoff ist, aus dem Deutschlands Träume gemacht sind.
Aber egal wie oft man noch die neusten Meldungen liest und sich die Hände wäscht und die Person in den eigenen vier Wänden umarmt – da ist diese Lücke. Das Gefühl, plötzlich viel stärker mit sich selbst konfrontiert zu sein. Die Frage, was man jetzt tun soll, muss, will. Überhaupt diese Fragen! Hat mich mein Beruf eigentlich jemals glücklich gemacht? War die Unternehmensgründung das alles wert?

Ähhh, lieber schnell was anderes machen, lenkt das Gehirn reflexhaft bei solchen unangenehmen Fragen ein. Also Laptop auf und rein ins Internet. Vielleicht kurz zu Facebook, das Profilbild mit dem Hashtag #StayTheFuckHome aktualisieren. Vorsorglich schon mal der Veranstaltung „Corona-Afterparty“ zusagen. Oder doch bei Twitter auf die Idioten beim Springbreak schimpfen, die nach wie vor feiern und den Schuss nicht gehört haben. Oder auf Instagram die rührseligen Botschaften irgendwelcher Promis anschauen, die aus ihrer schicken Wohnung eindringlich mahnen, dass man doch bitte zu Hause bleiben solle. Oder noch kurz den Wikipediaartikel zu Christian Drosten lesen. Oder nach ausgiebigen Internetrecherchen die zehnte Netflixserie anfangen. Oder einen neuen Podcast. Oder sich durch gut gelaunte Oldies-Playlisten klicken, diesen Song von Scatman (keine Ahnung, was das heißt) entdecken und dazu ein bisschen durch die Wohnung hüpfen.

Vielleicht hat man irgendwo in den Sozialen Netzwerken einen Optimisten in der Timeline, der das mit Corona von der positiven Seite sieht und Videos von aufgeklartem Kanalwasser in Venedig teilt oder Artikel über den jetzt prognostizierten Digitalisierungsboost, auf den Deutschland schon seit Jahren wartet.
Oder man ist ein Fan von Selbstoptimierung und nimmt sich vor, die Kontaktsperre als Chance für den persönlichen Fortschritt zu nutzen. Jetzt wird die 30-Tage-Yoga-Challenge ausprobiert, das Klavierstück von vor drei Jahren wieder ausgekramt und Spanisch im Online-Kurs aufgefrischt.
Und klar, wenn man da Lust und Zeit für hat, warum nicht. Aber höchst wahrscheinlich wird man dadurch in drei Wochen nicht zu einem neuen Menschen. Höchstwahrscheinlich klappt das mit der Home-Tagesstruktur nur so lala. Man schläft einfach doch eine halbe Stunde länger, Yoga ist immer noch eine ziemlich langweilige Sportart und die ganzen To-Do‘s bleiben so lange unabgehakt auf der Liste, dass man Spanisch und Klavier nach dem Abendessen dann doch lieber wieder streicht.

Und das ist doch auch völlig ok. Die aktuelle Situation wühlt uns auf. Sie ist beunruhigend, Menschen sterben, wir wissen nicht, wie viele noch. Da kann man doch auch mal den Nachmittag aus dem Fenster starren, in den absurd blauen Himmel und alles einfach ziemlich krass finden.
Auf einmal ist da ein Staat über einem aufgetaucht und will bei der eigenen Freizeitgestaltung mitreden. Ganze Generationen haben vermutlich noch nie darüber nachgedacht, dass sowas wie Kontaktsperren überhaupt möglich sind. Wann fühlt man so deutlich wie in diesen Tagen, welche Macht der Staat über einen hat, welche Verantwortung er trägt?
Und neben all dem Schlechten beeindruckt jetzt dennoch auch die Solidarität und die Nächstenliebe, mit der Menschen sich einander begegnen. Den Nachbarn anbieten, Einkäufe zu erledigen. Sich ständig fragen, wie es einander geht. Und man fragt sich leise, wo das eigentlich vorher war. Damals, als manche Omas als Umweltsau und Kinder als Klimahysteriker betitelten. Aber Krisen bieten ja auch eine Chance auf Veränderung. Die Chance, tatsächlich klüger oder zumindest bewusster und sozialer aus ihr hervorzugehen.

Natürlich ist das anstrengend, das jetzt alles emotional an sich ran zu lassen. Besonders, weil dafür in einer ständig auf Fortschritt und Wachstum drängenden Gesellschaft oft kein Platz ist, zwischen Nine-to-five-Job, danach irgendwas zum Runterkommen schauen, Familie, Freunde, Hobbies, Steuererklärung. Und wenn man nie gelernt hat, sich mit sich und seinen Gefühlen auseinander zu setzen, nie eine Therapie gemacht hat, bei der man Dinge gemeinsam besprochen hat – Woher soll man dann jetzt wissen, wie das geht?
Aber wenn das Denken zu schwer ist, dann hilft manchmal Schreiben. Ohne Rechtschreibregeln, ohne Struktur, ohne konkretes Ziel. Einfach das, was man fühlt. Das ist natürlich kein Ersatz für eine Psychotherapie, aber die ist in diesen Tagen und auch vor Corona ja nicht jedem zugänglich. Und den therapeutischen Effekt des Schreibens kann man auch problemlos gratis am Küchentisch nutzen. Schreiben hilft, sich über Gedanken und Gefühle bewusst zu werden und sie im eigenen Tempo zu ordnen. Es hilft, neue Perspektiven zu entwickeln und Entscheidungen zu treffen. Und das muss auch nicht wie der nächste Bestseller klingen. Man kann auch einfach auf einer A4-Seite aufschreiben, wie man den Tag halt so fand.
Was dann aufgeschrieben ist, lässt sich weglegen. Und wenn man es irgendwann mal wieder hervorholt, muss man vielleicht ein bisschen über sich selbst lachen, weil man dann schon längst weiter ist.

Bild: „Morning Sun“ by Edward Hopper (1952)

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8 Kommentare

  1. Einfach mal dasitzen und innehalten, dafür habe ich jetzt Zeit – wie schön, dass diese Krise trotz allen Leids auch positive Effekte mit sich bringt. Du hast so viele ambivalente Gefühle und Effekte sehr lebendig beschrieben, dazu das tolle Bild von Edward Hopper – vielen Dank dafür!
    Vom Staat fühle ich mich zur Zeit beschützt wie nie zuvor und ich wünsche mir, dass der soziale Zusammenhalt in unserer Gesellschaft durch diese Krise auf Dauer gestärkt wird.

  2. Der Text trifft den Nagel auf den Kopf und beschreibt wunderbar die Lage, in der wir uns aktuell befinden! Danke!

    Den Tipp der Autorin über das Erlebte zu schreiben, kann ich auch empfehlen. Ich selber habe schon vor Corona mehr oder weniger regelmäßig und in Stichpunkten aufgeschrieben, was am Tag so gut gelaufen ist, mal mehr und mal weniger große Dinge. So endet der Tag stets mit Gedanken an etwas Positives. Jetzt zu Corona Zeiten habe ich das Ganze etwas umgewandelt und mache eine Liste, mit Dingen, die ich geschafft habe: sei es Fenster putzen, Klamotten aussortieren, die Gruselkammer entrümpeln, solche Sachen eben. Außerdem gibt’s eine Strichliste fürs Klavier üben, Videochats, Sportübungen und Babysitter-Einsätze. So hat man am Ende noch seine eigene Corona-Statistik. 😀

  3. Super auf den Punkt gebracht wie sich halb Deutschland gerade fühlt! Schöner Text 🙂
    Trotz der Ungewissheit ist jetzt endlich mal Zeit für die Entschleunigung nach der wir uns ständig sehnen. Die Krise bietet auch die Chance seine Prioritäten neu zu überdenken.